Glaubt Merkel eigentlich selbst, dass ihre Spardoktrin richtig ist? Wieso ist die deutsche Öffentlichkeit so Austerity-Geil? Und warum machen die deutschen Sozialdemokraten mit? Eine Erkundung.
Was sich die deutschen Medien – und zwar so ziemlich durch die Bank und völlig unabhängig von der Achse Boulevard/Qualität oder Links/Rechts – in dieser Woche in der Griechenland-Berichterstattung geleistet haben, ist ein schon lange nicht mehr dagewesener Tiefpunkt der Publizistik. Es hat ja überhaupt keinen Sinn mehr, die Lügen und Unwahrheiten oder die bloße Uninformiertheit aufzuzählen, die da via “Welt”, “Süddeutsche” oder auch “FAZ” ventiliert wurden, oder auf die gehässige Voreingenommenheit zu verweisen, wie wir sie in öffentlich-rechtlichen Sendern wahrnahmen.
Der Höhepunkt des medialen Geifers war dann das “Spiegel”-Cover vom Wochenende “Der Geisterfahrer – Europas Albtraum Alexis Tsipras”, der eine Titelgeschichte umhüllte, wie ich sie jedenfalls noch nie in einem Qualitätsmagazin gelesen habe. Es ist so unglaublich, wie hier Unwahrheiten, Halbwahrheiten, Unrecherchiertes und bloßer Unsinn aneinandermontiert wurde. Man würde eine ganze Woche brauchen, um jede faktische Unwahrheit zu widerlegen.
Da wird von den “russlandfreundlichen Tönen” der Tsipras-Regierung gesprochen. Welche sollten das gewesen sein? Fakt ist: Es wurde viel spekuliert, dass die Regierung eine Allianz mit Moskau suchen könnte, dafür gibt es auch Anhaltspunkte von der Art “X kennt Y und Y kennt Z und Z ist in Moskau eine große Nummer”, aber sehr viel mehr nicht. Es wurde hektisch berichtet, die Tsipras-Regierung spreche sich gegen neue Russlandsanktionen aus, dabei hat die Regierung nur dagegen protestiert, vor der Verkündigung neuer Sanktionen nicht konsultiert worden zu sein. Am Mittwoch war die Aufregung schon wieder vorbei – denn die EU-Außenminister haben die Russlandsanktionen vorzeitig verlängert, und zwar mit Zustimmung und ohne gröbere Änderungswünsche der neuen Athener Regierung. Finanzminister Yanis Varoufakis schrieb schon an diesem Tag auf seinem Blog über die “Story vom griechischen Veto, das es niemals gab”. Aber egal – der “Spiegel” schwadroniert noch vier Tage später munter drauflos, als habe er die Fakten nicht mehr rechtzeitig erfahren.
Ökonomische Zusammenhänge und das Für und Wider der finanzpolitischen Wünsche der Regierung werden nicht diskutiert (ist ja klar, ist ja zu kompliziert für den dummen Leser), und alles nur auf die Frage “deutscher Sparwille” gegen “griechisches Hallodritum” reduziert. Und dann werden immer wieder so Sätze eingeflochten wie, Tsipras würde die Schuld für die griechische Malaise “allein Merkel in die Schuhe … schieben”. Ist natürlich faktisch falsch. Jeder in der Syriza-Regierung geißelt die Verantwortungslosigkeit der griechischen Eliten. Tsipras sagt sogar, wir Griechen “haben Mist gebaut”. Er fügt allerdings manchmal hinzu: “Aber ihr Deutschen habt zwei Weltkriege und einen Holocaust angerichtet und hinterher trotzdem einen Marschallplan gekriegt.” Finanzminister Varoufakis wünscht sich ausdrücklich ein “hegemoniales Deutschland”, das in Europa als Wirtschaftmotor funktioniert wie die USA nach 1945.
An manchen Stellen ist der “Spiegel” wirklich ulkig: Wenn er beklagt, dass sich Griechen und Deutsche daran gewöhnt haben “den anderen als Karikatur zu zeichnen” – und das selbst in haarsträubender Weise tut.
Die Absurditäten gehen bis in Kleinigkeiten. Die Wahl des rechtspopulistischen Koalitionspartners sei “ein Kulturbruch” in Europa. Man kann den Koalitionspartner ja wirklich übel finden – was ich auch tue -, aber Kulturbruch in Europa? Hallo? In Ungarn regiert Viktor Orban als Ministerpräsident und seine rechtspopulistische Fidesz-Partei ist noch dazu Mitglied der Europäischen Volkspartei? ANEL ist in Griechenland nur Mini-Koalitionspartner mit einem Minister und ohne großes Gewicht, weil Syriza nur zwei Stimmen zur absoluten Mehrheit fehlen.
Nur gelegentlich schleicht sich sogar in den “Spiegel”-Artikel ein Hauch von Wahrheit, wenn etwa beschrieben wird, dass Deutschland mit seiner Austeritäts-Agenda mittlerweile sowohl in der internationalen Politik als auch in der Wirtschaftswissenschaft völlig isoliert ist. Umso amüsierter liest man dann Sätze über eine angebliche “Realitätsverweigerung, wie sie wohl nur in Griechenland möglich ist”.
Deutschland denkt also völlig anders über die ökonomischen Dinge als der gesamte Rest der Welt, aber auf die Idee, dass vielleicht die Deutschen “Realitätsverweigerung” betreiben, auf die kommt der “Spiegel” nicht. Es ist wie in dem Witz mit dem Geisterfahrer, der im Radio die Meldung hört, auf der Autobahn fahre ein Geisterfahrer und angesichts des dichten Gegenverkehrs sagt: “Was heißt einer? Unzählige!”
Aber lassen wir die Medienschau – eigentlich sollte der Blick in den aktuellen “Spiegel” ja nur ein lachhafter anekdotischer Einstieg zu einem viel grundsätzlicheren Thema sein, zu dem ich in den letzten Tagen immer wieder befragt werde, da man glaubt, ich würde – da ich mit dem deutschen politischen und medialen Establishment ein wenig vertraut bin -, dazu Antworten haben. Ich will versuchen, sie zu geben, so weit ich das kann. Die Fragen lauten: Glaubt Merkel tatsächlich an die Erfolgsträchtigkeit des Austeritätskurses, obwohl alle Welt mit gutbegründeten Fachurteilen das Gegenteil vertritt? Warum ist die deutsche mediale Öffentlichkeit eigentlich soweit jenseits der Spur des globalen Mainstream? Und warum macht da um Gottes Willen die SPD mit?
Was Frau Merkel glaubt, weiß ich natürlich nicht. Aber Merkel hat ein gutes Sensorium für die Volksmeinung und weiß sie zu ihren Gunsten zu steuern. Also müssen wir mit den Meinungen der normalen Deutschen und der Ordnung des deutschen Diskurses beginnen. Das “Problem” ist, dass Deutschland ökonomisch so gut da steht. Den Deutschen geht es – relativ – gut. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Stimmung gut, wer eine einigermaßen ordentliche Ausbildung hat, bekommt problemlos einen Job – das ist ganz etwas anderes als zur Zeit der Fünf Millionen Arbeitslosen zu Kohls Zeiten, mit denen dann noch Gerhard Schröder als Kanzler zu kämpfen hatte. Gleichzeitig geht es den Deutschen allerdings auch nicht so gut, wie es ihnen gehen könnte, da sich die deutschen Löhne und Gehälter in den vergangenen zehn Jahren nur sehr mäßig nach oben bewegt haben. Weite Teile der Beschäftigten haben Reallohnverluste erlitten. Aber dass es ihnen noch besser gehen könnte, wissen die Deutschen natürlich nicht. Man hat ja keinen realen Vergleich. Man weiß nur, es geht besser als vor zehn Jahren. Das weiß man dagegen sehr genau.
Der Grund dafür ist ein Mix der Wirtschaftspolitik der vergangenen zehn Jahre, der gute und schlechte Seiten hatte. Die guten: Natürlich ist die Produktivität in Deutschland sehr gestiegen, Deutschland profitierte nach der Finanzkrise auch von seiner ordentlichen industriellen Basis (Autoindustrie, Maschinenbau), hat also nicht so gelitten, wie jene Länder, die etwa die Finanzbranche forciert hatten. Also, das sind die echten Stärken der deutschen Wirtschaft.
Daneben gibt es dann auch noch falsche Stärken: Weil Deutschland eine Politik des Lohndumpings gefahren hat, kann es die Wirtschaftspartner nieder konkurrieren. Die normalen Bürger haben zwar Einkommen verloren, aber man redet ihnen ein, dass sie sich darüber freuen sollen, weil dadurch sei die deutsche Wirtschaft “wettbewerbsfähiger” geworden. Die durchschnittlichen Deutschen konnten sich zwar die von ihnen produzierten Güter selbst nicht mehr leisten, man konnte sie aber – Wettbewerbfähigkeit! – zu den Nachbarn exportieren, denen der wohlhabendere Teil Deutschlands dann Kredite gab, damit sie sie bezahlen konnten. So etwas geht natürlich nur eine zeitlang gut.
Der Punkt ist nun, dass aus diesen beiden Gründen in Deutschland schon in weiten Teilen der Bevölkerung die Vorstellung verbreitet ist, dass Deutschland eben gut gewirtschaftet hat und die anderen nur jetzt auch den Gürtel enger schnallen müssen, damit es überall bergauf geht. Aber das ist natürlich Unfug, wie man leicht verstehen kann: Es kann in einer integrierten Wirtschaft natürlich einer die anderen niederkonkurrieren und sich dadurch Vorteile verschaffen, alle gleichzeitig können das natürlich unmöglich tun. Wenn das alle gleichzeitig tun, sind am Ende alle ärmer. Deswegen kann ja Austeritätspolitik ja funktionieren, wenn ein Land diese – etwa nach einer Bankenkrise – betreibt, aber niemals, wenn das alle Länder tun.
Aber diese falsche Vorstellung ist in Deutschland weitgehend hegemonial – so hegemonial, dass sich im Grunde niemand dagegen zu argumentieren traut. Merkel weiß, dass sie von den Bürgern als Verkörperung dieses “Kurses der Wettbewerbsfähigkeit” angesehen wird, und praktisch unschlagbar ist, solange sich an zwei Dingen nichts ändert: Solange die öffentliche Meinung bleibt, wie sie ist, und solange sie – Merkel -, an ihrem Image nichts ändert. Da Merkel Machtpolitikerin ist, entscheidet sie sich selbstverständlich genau dafür, selbst wenn sie wissen sollte, dass es wider alle ökonomische Vernunft ist.
Der Rest ergibt sich quasi von selbst: Die öffentliche Meinung ist praktisch “gleichgeschaltet”, nicht, weil irgendjemand Befehle ausgeben oder Meinungsmacher bezahlen würde, sondern weil eine hegemoniale Deutung natürlich einen extremen Sog entfaltet: Wer nicht allzu viel nachdenkt, denkt wie alle anderen auch, und im Zweifel entscheidet man sich, mit der Meute zu grölen. Wer Zweifel hat, wird die vielleicht nicht laut äußern, weil er nicht als Abweichler dastehen will. Und wer zwar eine abweichende Meinung hat, wird die nicht radikal formulieren, sondern wird versuchen, sich nur so weit vom Mainstream zu entfernen, dass er für den Mainstream noch als diskursfähig gilt. Das Ergebnis: In Deutschland erscheint schon als linksradikal, was in der angloamerikanischen Wirtschaftspresse slighlty rechts der Mitte wäre.
Aus all dem ergibt sich natürlich auch das Agieren der deutschen Sozialdemokraten. Sigmar Gabriel und seine Leute (zu denen auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz gehört, schließlich liegt auch seine Wählerbasis in Deutschland) wissen, wenn sie eine Position ökonomischer Vernunft zu laut und vernehmbar einnehmen würden, würden sie sich in ihrem Land isolieren. Oder besser: Sie glauben das. Mit dem Ergebnis, dass im Spektrum der “ernstzunehmenden Politik” eine Position ökonomischer Vernunft nicht mehr geäußert wird, was seinerseits zur Stabilisierung des Meinungsklimas beiträgt. Da die wirtschaftliche Vernunft, die überall in der Welt Mainstream wäre, in Deutschland im politischen Feld nicht mehr repräsentiert ist (außer am linken Rand der Grünen und am Realo-Rand der Linkspartei), hat das wiederum Auswirkungen auf das veröffentlichte Meinungsbild. Kurzum: Die Schlange beißt sich in den Schwanz. Weil vernünftige Positionen in der Politik marginal sind, sind sie in der Presse marginal und deshalb sind sie wiederum in der Politik marginal… ein endloses Spiel mit vielfachen Rückkopplungsschleifen. So kommt es, dass die SPD heute in ihren wirtschaftspolitischen Positionen rechts vom Internationalen Währungsfonds steht.
Das sind die Gründe für den deutschen Irrsinn dieser Tage.
Syriza-Bashing: Ein Versuch, den deutschen Irrsinn zu verstehen